Fokus: Ein virtueller Blick ins Schulzimmer

Marco Seeli (links) und Philipp Peter

Zu Besuch in einem P-11-Treffen: Moderne 360-Grad-Kameras erlauben in Videoaufnahmen den Rundumblick. Was zu Beginn vor allem für Sport- und Landschaftsaufnahmen genutzt wurde, hält nun auch im Klassenzimmer Einzug. In Verstrebung der beiden Forschungsprojekte P-8 und P-11 werden 360-Grad-Kameras in Schulzimmern genutzt, um Unterricht auf eine ganz neue Weise zu videografieren. Und diese authentischen Einblicke veranschaulichen eindrücklich die dort stattfindenden Lehr- und Lernprozesse.

Ein Bankkreis im Schulzimmer – links neben mir sitzt ein Zweitklässler. Wenn ich nach rechts sehe, sitzen drei Mädchen und ein Junge neben mir. Vor uns steht ein Lehrer an der Tafel und erklärt, wie wir nachher in Zweierteams gegeneinander würfeln werden. Was äusserst real und in Echtzeit wirkt, ist in Tat und Wahrheit eine 360-Grad-Aufzeichnung, die ich anhand einer Virtual-Reality-Brille betrachte: Die Aufnahme einer Schulstunde in einem Schulhaus in Kriens. Im Film kann man – ähnlich wie bei Google-Street-View – einen Rundumblick wagen und verpasst dabei aber womöglich, was der Lehrer vorne zeigt.

Entstanden sind die Aufnahmen im Rahmen des Projekts P-8 «Mitten drin – 360-Grad-Videografie», unter der Leitung von Philipp Peter und in Zusammenarbeit mit Marco Seeli, der sich im Rahmen seines Auftrages als P-11-Teilprojektleiter fördernd und unterstützend mit seiner Expertise einbringen kann. «Multimediale Unterrichtsreflexion und moderne Textsorten», so der Überbegriff seines aktuellen P-11-Projektes, welches noch bis Sommer 2024 läuft (letzter Abschnitt unten). Gleich mit sieben Kameras haben die beiden die Lektion aufgezeichnet. So besteht die Möglichkeit, die Kinder auch während Gruppenarbeiten verteilt im ganzen Raum und unabhängig voneinander zu beobachten: «So videografieren wir hochspannende Interaktionen, die uns anderweitig verborgen blieben», sagt Marco Seeli. Und tatsächlich geht die Gruppenarbeit nicht bei allen Zweierteams gleich reibungslos von statten.

Anwendungen für Ausbildung und Forschung

Die im Unterricht entstandenen Video-Spuren sichten Marco Seeli und Philipp Peter im Rahmen wiederkehrender P-11-Zusammenzüge zur Wissenschaftsorientierung. Dabei nutzt Philipp Peter die Technologie der 360-Grad-Aufnahmen bereits heute vereinzelt in der Ausbildung und erlebt immer wieder, wie die Leute zunächst vom Hocker gerissen werden: «Beim ersten Mal eintauchen gibt es immer diesen Wow-Effekt.» Deswegen müssten die ersten Minuten häufig ein zweites Mal angeschaut werden. Denn mit diesen Unterrichtssequenzen soll ja gearbeitet werden. Und in Ergänzung erlauben die P-11-Treffen die gemeinsame Reflexion: die Evaluation des Vorgehens, dessen wissenschaftliche Fundierung.

So hat sich bisher gezeigt: Zum einen kann mit immersiven Videosequenzen das Verhalten und die Methodik der Lehrpersonen mehrperspektivisch (und insofern genauer) analysiert werden – nicht nur im Kreis, sondern eben auch in den anschliessenden und sehr diversen Lernkonstellationen und -situationen im Klassenzimmer. «Das eignet sich natürlich hervorragend zur Ausbildung von Lehrpersonen», sagt Philipp Peter. «So kann Unterricht in komplexen Szenarien gezeigt werden und die Studierenden sitzen auf Augenhöhe der Kinder in der ersten Reihe.»

Viel Aufwand für spannende Lektionen

Je weiter die Sichtung der aufgezeichneten Unterrichtsstunde im Rahmen der P-11-Sitzung voranschreitet, desto überzeugter sind Philipp Peter und Marco Seeli, dass sie hier eine hervorragende Beispiellektion dokumentiert haben. Nun geht es darum, aus den sieben Rohfilmen passende Ausschnitte zu bestimmen, die für die Forschung oder eben die Ausbildung angehender Lehrpersonen an der PH Luzern relevant sind. Das übergeordnete Ziel ist die Bereitstellung von virtuellen Lernräumen, als Arrangement synchroner Kurzvideos zur fachgerechten Veranschaulichung von mehrschichtigen Lehr- und Lernprozessen. Diese können zur kritischen Auseinandersetzung in der Aus- oder Weiterbildung von Lehrpersonen dienen. «Am Ende werden wir wohl ein Paket von rund 12 Videofiles aus dieser einen Lektion haben», schätzt Philipp Peter. Dann könnten Studierende beispielsweise bestimmten Zweiergruppen im Klassenzimmer folgen und untersuchen, wie divers Gruppenarbeiten umgesetzt wurden oder auch, wie unterschiedlich die Lehrperson in ihrer Berufspraxis gefordert ist.

Videografierte Berufspraxis und Unterrichtsreflexion

Marco Seeli geht in seinem P-11-Teilprojekt «Multimediale Unterrichtsreflexion und moderne Textsorten» den folgenden Fragen nach: Wie kann das Forschungsfeld der videografierten Berufspraxis und -reflexion unter Miteinbezug neuer Technologien erweitert werden? Welche praktischen Konsequenzen für die Ausbildung angehender Lehrpersonen ergeben sich daraus? Im P-11-Teilprojekt «Videografierte Berufspraxis als Fokus wissenschaftsbasierter Reflexion» werden gefilmte Situationen aus der Berufspraxis anhand wissenschaftlicher Konzepte analysiert und im Licht von Forschungsergebnissen reflektiert. Ein wesentliches Merkmal des Projekts ist, dass bei der Förderung von Wissenschaftskompetenz nicht allein auf diejenigen fokussiert wird, welche in der Forschung tätig sind. Vielmehr werden Wege gesucht, alle Dozierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden in diesem Bereich weiterzubringen.

Das Projekt PgB P-11 «Wissenschaftsorientierung PH-FH» läuft bereits seit Sommer 2021 und ist eine Kooperation zwischen der PH Luzern und der HSLU.

Herbert Luthiger, Philipp Peter und Yves Karrer untersuchen im Rahmen des P-8 Projekts «Mitten drin – 360° Videografie» die Möglichkeiten der 360°-Videoaufzeichnung von Unterricht für Lehre, Reflexionsprozesse und Analyse von Unterricht.

 

Michael Weber